Während der Schulzeit sei er ein Träumer gewesen und noch nicht zu besonderer geistiger Selbstständigkeit erwacht. Er habe kein besonderes Interesse für Politik gezeigt, und das Kaiserreich begeisterte ihn wenig, schreibt Steltzer in seinen Lebenserinnerungen. Er erhielt eine sorgfältige Erziehung und Geigenunterricht und hatte – abgesehen vom frühen Tod seiner Mutter – keine besonderen Probleme durchzustehen. Der Religionsunterricht in der Schule konnte ihm zu wenig innere christliche Überzeugung vermitteln. Er erhielt ein gewisses Schuldgefühl durch die Naumann’sche Zeitschrift „Die Hilfe“, als er von sozialem Elend anderer Menschen erfuhr. Dennoch ergab sich daraus kein weiteres Engagement, denn einerseits schien sich der Fortschritt wie von selbst zu vollziehen, andererseits besaß er die typisch jugendliche Ansicht, dass eigentlich alle bisherigen Politiker etwas falsch gemacht haben mussten. Er suchte nach neuen Ideen, äußerte manchmal extravagante Ansichten, die aber eher als unausgegoren wahrgenommen wurden.
Im Nachhinein beurteilte Steltzer die Kompliziertheit der Welt als eher nützlich, da sie ihn vor simplen Vereinfachungen bewahrt habe. Er war damals auf der Suche nach Verbindungen von Politik, Wirtschaft und Ethik und tat sich deshalb besonders schwer mit der Berufswahl. Mit der festgefügten Welt der Juristen war er nicht zufrieden und entschied sich, obwohl er eine Aversion gegen bestimmte Formen des Drills hatte , für die Offizierslaufbahn. Danach (1907 – 1909) glaubte er durch das Studium der Staatswissenschaften und der Ökonomie in München gewisse Lebensbereiche verbinden zu können, musste aber doch desillusioniert die sehr starke Spezialisierung der einzelnen Stoffgebiete feststellen. Er gab am Schluss zu, dass „die Wissenschaft niemals das Ganze vermitteln kann“, nach dem er so leidenschaftlich gesucht hatte („Sechzig Jahre Zeitgenosse“, S.22).
Ihm fehlte – vielleicht zum Glück- eine die Welt als ganze erklärende Ideologie. Er hatte in der Schulzeit auf dem von ihm besuchten Johanneum keinen Antisemitismus kennengelernt. (Übrigens kannte er in München den Sprachwissenschaftler und ehemaligen Johanniter jüdischer Herkunft Dr. Hermann Jacobsohn, der Museumsführungen mit Studenten veranstaltete ). Bei den Liberalen stieß ihn die nationale Phraseologie , bei den Sozialdemokraten die marxistische Ideologie ab. Gleichwohl beteiligte er sich an Arbeiterbildungsprogrammen und versuchte seinen Gesichtskreis durch das Kennenlernen neuer Menschen zu erweitern. Die zwanglose bayerische Herzlichkeit im Gegensatz zur bisher gekannten verkrampften norddeutschen Haltung half ihm dabei. Beruflich kehrte er aber zur militärischen Laufbahn zurück.
Der Kreisauer Kreis, benannt nach dem Gut des Grafen von Moltke in Niederschlesien, bestand aus Männern und Frauen ganz unterschiedlicher Herkunft und politischer Richtung, die von einer christlichen Grundorientierung aus Überlegungen zu einer demokratischen Neuordnung Deutschlands nach Hitler anstellten. Steltzer gehörte zu denjenigen Mitgliedern des Kreises, die der Meinung waren, dass alle politischen Vorstellungen des 19. Jahrhunderts überholt waren und alle gesellschaftlichen Formen einer Neufassung bedurften. Ansätze zu dieser Überzeugung bildeten sich bei Steltzer bereits im Ersten Weltkrieg.
Obwohl er bis 1914 noch kein überzeugter Republikaner war, empfand er besonders während des Ersten Weltkrieges eine gewisse Distanz zur militärischen Führungsschicht, da sie in einer der Vergangenheit zugewandten Haltung erstarrt war und keine Beziehung zu den Aufgaben der Zukunft besaß. Besonders fielen ihm als Insider des Generalstabs die Illusionen und die machtpolitischen Spekulationen innerhalb der Obersten Heeresleitung auf, mit denen sich Hindenburg und Ludendorff über die wirkliche militärische Lage hinwegtäuschten. Steltzer erlebte deshalb das Kriegsende 1918 bereits mit einer größeren Distanziertheit.
Als Landrat ab 1920 eher mit praktischen politischen Aufgaben befasst, machte er sich dennoch Gedanken um die Reichsverfassung und schickte 1930 eine Denkschrift an Brüning, in der er sich für die Auflösung Preußens und einen starken Föderalismus aussprach. Als er 1933 von den Nationalsozialisten entlassen wurde, musste er mit gekürzter Pension leben und konnte seinen Kindern nur dadurch eine bessere Schulbildung ermöglichen, dass Dr. Bondy sie unter Ermäßigung der Kosten in das Landerziehungsheim Marienau aufnahm. (Kurz darauf bot ihm Bondy sogar die Schulleitung an, weil er selbst als Jude emigrieren musste). Im April 1933 verfasste Steltzer im Auftrage des späteren österreichischen Kanzlers Schuschnigg eine Denkschrift mit dem Thema „Grundsätzliche Gedanken über die deutsche Führung“, in der er bereits vor einer großen europäischen Katastrophe warnte.
Er beteiligte sich während des Nationalsozialismus dennoch nicht an spektakulären Widerstandsaktionen, weil er der Meinung war, dass nur die Wehrmacht als ganzes gegen Hitler eine Chance hatte. Er wirkte eher „im Stillen“, setzte sich z.B. in Oslo für verhaftete Norweger ein und knüpfte Kontakte zu Gleichgesinnten. Er hatte ab 1940 Verbindungen zu Helmuth James Graf von Moltke, Peter Graf Yorck von Wartenburg, Pater Alfred Delp und anderen, die er gelegentlich in Berlin traf. Steltzer schätzte gerade das Gefühl der geistigen Freiheit im Gedankenaustausch zwischen den unterschiedlichen Meinungen innerhalb des Kreisauer Kreises. Über das Attentat des 20. Juli 1944 war Steltzer nur unzureichend informiert und nicht an ihm beteiligt. Im Gefühl der Aussichtslosigkeit nach seiner Verhaftung und Verurteilung zum Tode konnte ihm nur seine christliche Überzeugung etwas Trost bieten, besonders als er nach und nach von der Hinrichtung anderer Mithäftlinge erfuhr.
Ihre Früchte trugen die Diskussionen des Kreisauer Kreises für Steltzer auch nach 1945, als er sich zunächst selbst wieder in der praktischen politischen Verantwortung befand, dann aber auch bei seinem Engagement für die Errichtung von Brücken zwischen Menschen, die sonst nicht miteinander ins Gespräch gekommen wären. Das galt sowohl innerhalb der Gesellschaft als auch international, wo sich Steltzer für die Einigung Europas und für Gespräche mit den osteuropäischen Staaten einsetzte. „Zeitgenosse sein“ bedeutete für Steltzer, Mitverantwortung für die Menschengemeinschaft auf sich zu nehmen, die Existenz- und Denkmöglichkeit zu ermessen, die in der Menschengemeinschaft einer bestimmten Zeit liegen, das Bleibende und Unzerstörbare in den Menschen und soziale Fehlentwicklungen zu erkennen.
Seit 2013 vergibt die „Vereinigung der Ehemaligen, der Freunde und Förderer des Johanneums e.V.“ einen Preis für Schülerinnen und Schüler des Johanneums, die sich für ihre Mitschüler und die Schulgemeinschaft in besonderer Weise eingesetzt haben, oder sich beispielsweise für Projekte engagiert haben, die die Anliegen und Interessen der Schülerschaft betreffen. Als erster Preisträger erhielt am 22.6. 2013 im Rahmen der Abiturientenentlassungsfeier der Abiturient Oskar Graap durch Herrn Karsten Hofmann, den Vorsitzenden des Fördervereins, eine Urkunde und ein Buchgeschenk für sein Engagement im Schülersprecherteam.
Als Namensgeber des Preises wurde Theodor Steltzer, ein prominenter ehemaliger Johanniter ausgewählt. Das bedarf einer genaueren Begründung. Denn einige Anschauungen Theodor Steltzers sind nur noch auf dem Hintergrund der damaligen Zeit zu verstehen und heute nicht mehr ohne weiteres nachzuvollziehen. Steltzer war 1933 noch nicht aktiv im Widerstand, da er von der Weimarer Parteiendemokratie enttäuscht war. Der „Glaube an das deutsche Volk“ und die „geistigen Werte der Nation“ bestimmten damals noch sein Denken (1). Er wünschte sich für das Wohl des Volkes eher einen starken Staat, der zwar ein Rechtsstaat sein sollte, aber dem Machtkampf von Parteien keinen Raum bieten sollte. Auch sein Plan, das Christentum zur Grundlage des Staates zu machen und sein Grundsatz „alles für das Volk, weniges durch das Volk“ weisen ihn nicht gerade als modernen Demokraten aus (2).
Es gibt aber viele gute Gründe dafür, gerade Steltzers Persönlichkeit als Vorbild für heutige Jugendliche zu betrachten:
- Steltzer war mit seiner Überzeugung für Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte im Kreisauer Kreis Teil des Widerstandes gegen die Hitlerdiktatur und musste damit rechnen, im Falle der Entdeckung hart bestraft zu werden. Denn die Erörterung von Gedanken über ein zukünftiges Deutschland nach der Hitlerdiktatur, also ohne Hitler, galt bereits als Hochverrat. Er setzte also sein Leben für seine Überzeugungen ein. Dass er als zum Tode Verurteilter in letzter Minute der Hinrichtung entkam- im Unterschied zu anderen Mitgliedern des Kreisauer Kreises- , kann man fast als unwahrscheinlichen Glücksfall betrachten.
- Steltzer war nie Antisemit; er lehnte die Vorstellung einer „rassischen Überfremdung“ ab und missbilligte Übergriffe gegen das Judentum (3). Er kannte nicht nur Juden wie z.B. den ehemaligen Johanniter Hermann Jacobsohn, sondern setzte sich für die Rettung norwegischer und dänischer Juden ein. Nach Steltzers Überzeugung müsse jedes fremde Volkstum geachtet werden, auch dem Kleinsten müsse sein Recht gegeben werden.
- Steltzer beschäftigte sich ständig mit Ideen und Projekten, in denen es darum ging, etwas zu verbessern und sich zu engagieren. Die „Volkserziehung“ und die Verbesserung der Infrastruktur lagen ihm zum Beispiel am Herzen. Er war ständig ein Suchender, der sich um geistige Orientierung bemühte. Er war Mitglied in zahlreichen Arbeitskreisen und Vereinigungen, z.B. im Lions Club.
- Er war kontaktfreudig und weltläufig. Er pflegte Kontakte zu Angehörigen anderer Parteien, z.B. zu Willy Brandt, den er im Exil in Norwegen kennengelernt hatte.
- Er war nicht auf eine Karriere, eine hohe Position oder eigene Interessen erpicht, sondern ihm ging es in der Politik immer um die Sache.
- Er hatte ein gut funktionierendes Gewissen und Verantwortungsgefühl. Trotz seines Widerstands gegen die Hitlerdiktatur war er deshalb nicht zu einem Attentat gegen Hitler bereit, weil er – im Gegensatz zu Bonhoeffer- mit seiner christlichen Überzeugung argumentierte, Mord sei Mord und mit dem 5.Gebot nicht zu vereinbaren. Aus diesem Grunde lehnte er auch politische Umstürze und gewaltsame Revolutionen ab, da diese „stets zerstörende dämonische Kräfte entwickeln, die ihre Urheber nicht mehr bewältigen können“ (4).
Obwohl er sich immer für das Gemeinschaftliche engagierte, blieb er immer Individualist und bewahrte sich seine eigene Urteilsfähigkeit. Er redete anderen Leuten nicht nach dem Mund, war nie völlig angepasst. In den Anfangsjahren der CDU stimmte er z.B. nicht unbedingt mit der Linie Konrad Adenauers überein. Trotz seiner individuellen Überzeugungen war er immer bereit, in den gegebenen politischen Strukturen mitzuarbeiten, um das Beste daraus zu machen. Er galt als Mann des Ausgleichs. Obwohl er als politisch Verantwortlicher in der politischen Auseinandersetzung von mehreren Seiten angefeindet wurde, bewies er Standfestigkeit. - Er besaß einen Weitblick für zukünftige Weltaufgaben: für den Ausgleich zwischen Industrienationen und Entwicklungsländern, für das Problem der Überbevölkerung, für die Europäische Einigung, für Abrüstungsfragen, für den Dialog mit der DDR.
Anmerkungen:
Zum Folgenden: Klaus Alberts, Theodor Steltzer, Boyens Medien GmbH&Co KG Heide 2009, S . 60ff
Klaus Alberts, a.a.O. S.156
Klaus Alberts, a.a.O. S. 310
Klaus Alberts, a.a.O. S. 148
Bisherige Preisträger des Steltzer-Preises:
2013 Oskar Graap
2014 Nico von Horsten, Niklas Martin, Jonathan Riesner