Das Johanneum besitzt ein Klassenfoto von 1908, das Bruno Snell als 12- jährigen Schüler zeigt (Foto unten, erster von links, stehend). Er war übrigens im gleichen Jahrgang wie Karl August Wittfogel, der in der obersten Reihe (dritter von links, mit Mütze) zu sehen ist. Der wache Blick des Schülers Bruno Snell ist typisch für einen aufgeweckten Jungen, der bei den Lehrern zwar durch seine hellen Geistesblitze auffiel, den aber in diesem Alter das Lernen von griechischen und lateinischen Vokabeln keineswegs begeisterte, obwohl sich sein Vater bemühte, ihn mit allen Tricks zum Arbeiten anzuregen. So kniff er seinen Sohn z.B. beim Vokabelabhören sanft in den Arm, um mit dem Wort „au“ den Wortanfang von „auctoritas“ hervorzulocken.
Es war das Elternhaus, das ihm eine gewisse Liberalität mitgab, wenngleich sein Vater, der Psychiater Dr. Otto Snell, der seit 1900 Direktor der „Provinzial-Irrenanstalt“ in Lüneburg war, sich gewünscht hatte, dass sein Sohn Bruno nach seinem Abitur 1914 in eine schlagende Studentenverbindung in Göttingen eintreten sollte, was dieser jedoch verweigerte. Was für die Vorfahren der Familie Snell noch revolutionär war, nämlich dass der Uronkel Bruno Snells Anfang des 19. Jahrhunderts die studentischen Burschenschaften mitbegründet hatte, erschien dem Abiturienten im Zusammenhang mit dem nationalen und obrigkeitsstaatlichen Gehabe des wilhelminischen Deutschland eher antiquiert.
Statt dessen ging Bruno zum Studium nach England, was sich im Nachhinein als Glücksfall erwies, da es ihn mit englischer liberaler Gesinnung bekannt machte, worin ein englischer Dozent später einen Grund erblickte, dass Snell nicht den Einflüssen des Nationalsozialismus erlag. Trotz eines Schlüsselerlebnisses in einer Vertretungsstunde des Direktors des Johanneums Cornelius Hölk über das logische Verhältnis von Sätzen, die das Interesse des Johanniters Snell für Sprachphilosophie geweckt hatte, begann er sein Studium nicht mit Philologie. Er immatrikulierte sich für Jura und Nationalökonomie an der Universität Edinburgh. Auf einer Wanderung in Schottland wurde er vom Ausbruch des 1. Weltkrieges überrascht und als Zivilgefangener interniert. Immerhin erlaubte man ihm unter polizeilichen Auflagen 18 Monate lang in Oxford Römisches Recht zu studieren, bis ihm dieses Privileg angesichts der vielen gefallenen gleichaltrigen Engländer Gewissensbisse bereitete. So wurde er auf der Isle of Man interniert. Hier fiel ihm in der Bibliothek des Lagers eine Ausgabe des Aischylos in die Hände, die ihn in den Bann zog. Als er 1917 vorzeitig gegen englische Verwundete ausgetauscht und entlassen wurde, begann er in Leiden das Studium der klassischen Philologie, was er in Berlin, München und Göttingen weiterführte und mit der Promotion abschloss.
Die „Wanderjahre“, die er als Studienreferendar in Wandsbek 1923-24, als Lektor für Deutsch in Pisa 1924-25 und als Assistent am Archäologischen Institut in Rom 1925 verbrachte, machten aus Snell einen überzeugten Europäer. Er beherrschte außer Englisch auch das Niederländische und das Italienische. Snells Bemühung um die Unabhängigkeit des Denkens zeigte sich in seiner Art das Griechentum zu erforschen, um noch in der Gegenwart von den Griechen zu lernen. Als 1933 die Nationalsozialisten an die Macht kamen, versuchte Snell als junger Professor, seine Kollegen bei einer Einladung in seiner Wohnung zu einer Stellungnahme gegen den nationalsozialistischen Machteinfluss an der Universität zu gewinnen – leider vergeblich. Er ging zum neuen von den Nationalsozialisten eingesetzten Rektor der Universität und wies ihn darauf hin, dass dessen Vorhaben sich nicht für die Universität eigneten. Es gelang Snell aber, das philologische Seminar von nationalsozialistischem Einfluss frei zu halten. Man konnte sich in den Seminaren kritisch und offen äußern. Als 1941 der junge Student der Germanistik Walter Jens zu Bruno Snell in die Sprechstunde kam und fragte, ob es noch Sinn habe, Griechisch zu studieren, bejahte Snell und fügte hinzu: „… unter der Voraussetzung, dass wir den Krieg verlieren.“ Auf die Verwunderung des Studenten angesichts solcher Offenheit des Professors gegenüber einem Wildfremdem erwiderte Snell: „Sie haben ‚guten Tag‘ gesagt“ (und nicht ‚Heil Hitler‘). Snell half verfolgten Kollegen wie Paul Maas und Kurt Latte, der in Hamburg versteckt lebte.
Als 1934 die Volksabstimmung über die Vereinigung des Amtes des Reichskanzlers mit dem des Reichspräsidenten in der Person Hitlers erfolgte und überall die Propagandaplakate mit dem großen „JA“ hingen, schrieb Snell seinen kleinen Aufsatz „Das I-ah des goldenen Esels“ mit der Interpretation einiger Stellen in den Metamorphosen des Apuleius – nur, um ihn mit der berühmten ironischen Bemerkung zu schließen: Das einzige Wort, das ein griechischer Esel habe sprechen können, sei das griechische Wort „ou“ (nein) gewesen, während kurioserweise die deutschen Esel immer nur „ja“ sagen könnten. Dieser Satz hatte für Snell glücklicherweise keine negativen Folgen. Obwohl er es manchmal mit List schaffte, die lokalen Nazigrößen an der Universität gegeneinander auszuspielen, war Snell aber weit davon entfernt, sich zu einem heldenhaften Widerstandskämpfer hochzustilisieren, wie ihm überhaupt jede Form von Pathos zuwider war. Er gestand in einem 20 Jahre späteren Gespräch über seine Rolle im Dritten Reich: „Mir wäre heute wohler, wenn ich damals, wie alle die anderen, ausgewandert wäre.“
Snell bemühte sich nach 1945 darum, die internationalen Kontakte der Universität Hamburg wiederherzustellen und auszuweiten. Er reiste zu Gastsemestern ins Ausland und veranstaltete 1953 einen internationalen Kongress „Wissenschaft und Freiheit“ in Hamburg. Er gründete die „Stiftung Europa- Kolleg“, die der Begegnung und
wissenschaftlichen Zusammenarbeit junger Menschen gewidmet sein sollte. Er beteiligte sich an Bestrebungen zu einer Hochschulreform; 1953 beschloss der Akademische Senat der Universität unter dem Rektorat Snells, den Studenten 2 Sitze bei der Beratung studentischer Angelegenheiten zu gewähren. 1962 unterzeichnete er mit 14 anderen Professoren einen Brief an den Deutschen Bundestag, in dem die Strafbarkeit der Mensur bei Studentenverbindungen gefordert wurde.
Snells Perönlichkeit hatte etwas Freundliches und Gewinnbringendes an sich; er war ein geselliger und amüsanter Unterhalter. Seinen Studenten trat er eher locker gegenüber: Er saß manchmal auf der Kante eines Tisches, ließ die Beine herunter baumeln und kramte seine Notizen aus der Jackentasche. Er gab Anregungen und streute Ideen aus; nie aber gab er feste Linien vor. So öffnete er seinen Studenten eigene Wege des Forschens.