Zitate aus : „Die Zerstörung einer Zukunft, Gespräche mit emigrierten Sozialwissenschaftlern. Aufgezeichnet von Mathias Greffrath, Reinbek bei Hamburg 1979.
„….wir jungen Leute wollten eine freie Lebensart. Wir wollten uns kleiden, wie wir wollten. Wir wollten wandern, wir wollten unsere Pläne machen, wie wir wollten, und wir hatten eine Selbstverwaltung, das heißt, wir hatten unsere kleinen Angelegenheiten in unseren Händen. Ich möchte sagen, dass der Wandervogel, wie ich ihn damals zuerst als Altwandervogel in Lüneburg kennenlernte, eine der späten, nach meinem Dafürhalten nicht unbedeutenden Formen eines romantischen Freiheitsgefühls war. Das Wort Liberalismus ist eigentlich zu eng, aber im Zweifelsfalle ist es besser als andere Worte, und in diesem Sinne habe ich es damals aufgenommen. …“
Sie haben dann 1914 Abitur [am Johanneum] gemacht, dem Jahr als der Krieg ausbrach…
„Dies ist eine Phase, die den Kern meiner Entwicklung betrifft . Seit Obersekunda fand ein Einbruch in mein Denken statt, der kam aus einer Gegend, die sich ganz gegen meine Tradition richtete. Diesen Einbruch förderte das sozialistische Buch der Lily Braun. Aber da waren vor allem die Skandinavier, Ibsen, Bjoernson und später Strindberg, und da waren die Russen, und da war Nietzsche. Mit ihm begann alles zu zerbröckeln.
Von Obersekunda, Unterprima (Klasse 11 und 12) an war ich schon in einer Entwicklung begriffen, die das «Establishment» nicht wollte. Ich war also bereit, meinen eigenen Weg zu gehen. Obgleich ich der einzige war in der Oberprima, der sich nicht freiwillig [zum Kriegsdienst] meldete, kamen die anderen alle zu mir und sagten: «Du verstehst, warum wir uns alle melden, aber wir verstehen auch, dass du dich nicht freiwillig meldest, denn wir wissen, dass du ja eigentlich diesen ganzen militärischen Zusammenhang ablehnst.» Ich denke immer noch mit Rührung daran und ohne es eigentlich zu verstehen, warum meine Schulkameraden so gut zu mir waren und mich nicht wie die Außenseiter verurteilten.
Ein Beispiel: Der Direktor unseres Gymnasiums [des Johanneums] winkte mich einmal heran, als wir aus der großen Pause zum Unterricht zurückgingen, das war in der Unterprima. Er sagte: «Wittfogel, ich habe gehört, Sie wollen eine neue Religion gründen!» Ich zuckte mit den Achseln. «Ich verbiete Ihnen das!» Also da sehen Sie den Zusammenstoß zwischen zwei Welten. Als ich zu ihm ging, als ich aus dem Gymnasium ausschied, da zeigte sich, dass er sah, dass ich anders dachte und dass ich mich anders entwickelt hatte. Er sprach zu mir mit einer grimmigen Anerkennung, dass in mir etwas war, was bei den anderen nicht war.
Einmal, in der Oberprima, wandte er sich an einen sehr gebildeten Mitschüler und sagte: «Haben Sie Zarathustra gelesen?» Er sagte: «ja.» – «Haben Sie ihn verstanden?» Der Gefragte antwortete – ich dachte, er war feige – «Nein.» Dann wandte er sich zu mir und fragte: «Wittfogel, haben Sie Zarathustra gelesen?» Ich sagte: «ja.» – «Haben Sie ihn verstanden?» Ich hatte ihn natürlich auch nicht ganz verstanden, aber ich antwortete: «ja.» Das war der Unterschied.
Weiterer Lebenslauf (nach Brockhaus 1991):
Früh in der Jugendbewegung engagiert, wandte sich Wittfogel bereits während des Studiums in den 1920er Jahren der sozialistischen, darin kommunistischen Arbeiterbewegung zu und griff außer mit theoretischen Schriften auch mit politischen Theaterstücken in die kulturellen Auseinandersetzungen der Weimarer Republik ein. Ab 1925 war er Mitarbeiter des Frankfurter Instituts für Sozialforschung und promovierte 1930 mit einer sinologischen (chinakundlichen) Arbeit.
1933 war Wittfogel im Konzentrationslager, 1934 emigrierte er in die USA und nahm verschiedene Lehraufträge wahr, mehrere Reisen nach Asien (1936-39 China), 1939 brach er mit der KPD. Von 1947-66 war er Professor für chinesische Geschichte an der University of Washington in Seattle.
In der Zeit des kalten Krieges war W. überzeugter Antikommunist, was ihn zeitweise in Verbindung mit den Denunziationen der McCarthy-Ära brachte. Mit seinen Arbeiten über die asiatischen Produktions- und Herrschaftsverhältnisse (hydraulische Gesellschaften), die einerseits die analytischen Ansätze von KARL MARX und M. WEBER weiterzuführen suchten und andererseits eine Grundlage zur Erklärung und Kritik der politischen Geschichte in der Sowjetunion (Stalinismus) und in China darstellen wollten (>Oriental despotism<, 1957; dt. >Die orientalische Despotie<), fand Wittfogel Beachtung und Widerspruch.
Weitere Werke: Gesch. der bürgerlichen. Gesellschaft (1924); Wirtschaft u. Gesellschaft Chinas (1931). G. L. ULMEN: The science of society. Toward an understanding of the life and work of K. A. Wittfogel (Den Haag 1978 :K. H. MENGES: K. A. Wittfogel (1896-1988), in: (Central Asiatic journal, Bd, 33 (Wiesbaden 1989).
Autor: Alfred Blohm
Die persönliche politische Entwicklung Wittfogels ist insofern außergewöhnlich, als sich in seiner Lebensgeschichte Erfahrungen niedergeschlagen haben, die seine daraus resultierende Gesinnung über voreilige Einordnungen in bestimmte ideologische Schubladen erhaben machen. Der Preis, den Wittfogel für diese Lernerfahrungen bezahlen musste, war hoch, die Erlebnisse selbst schmerzlich. Wittfogel wurde schon in seiner Jugend marxistisch beeinflusst und verabschiedete sich 1914 mit einer marxistisch getönten Abiturrede vom Johanneum,was den in der Aula versammelten Honoratioren damals gar nicht gefiel. Er wurde außerdem zum glühend überzeugten Kriegsgegner des 1. Weltkrieges, den er als Soldat miterlebte.
1918 trat er in die USPD ein, 1920 in die KPD. In dieser ersten politisch bewusst wahrgenommenen Zeit schrieb er unter anderem fünf revolutionäre Dramen und nannte den Kommunismus die „neue Religion für ein besseres Diesseits“. Er wurde Mitglied des Frankfurter Instituts für Sozialforschung. Sein zweites Buch „Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft“ (1924) war noch geprägt von Marx-, Bucharin- und Leninzitaten. Marx wird darin als „größter Geschichtsschreiber der bürgerlichenGesellschaft“, und Lenin als sein „kongenialer Nachfahre“ bezeichnet. Der damals herrschenden bürgerlich- akademischen Elite, z.B. Max Weber, bescheinigte Wittfogel „Ratlosigkeit, Zerrissenheit ihrer Methode“ und wähnte sich selbst sicher im festen Glauben an die Diktatur des Proletariats.
Als durch seine wissenschaftliche Arbeit ab 1926 die Konturen seiner eigenen Theorie der „orientalischen Despotie“ deutlicher wurden, zeigten sich erste Differenzen zu der mittlerweile vorherrschenden stalinistischen Version des Marxismus. 1931 fanden auf der Leningrader Konferenz Diskussionen über das Thema der asiatischen Produktionsweise statt, als bereits 5 Millionen russischer Bauern im Zuge der Zwangskollektivierung umgekommen waren. Nun musste Wittfogel erleben, wie ihm die eigenen Genossen mit ideologischer Härte in den Rücken fielen. Seine Theorie der asiatischen Despotie wurde von Stalin verboten, danach totgeschwiegen; 17 seiner 22 Mitstreiter wurden Opfer stalinistischer Säuberungen. Er selbst wurde als „Renegat“ verschrien. (Sogar Rudi Dutschke nennt ihn 1974 noch so in seinem Buch „Versuch, Lenin auf die Füße zustellen“ ). Trotz dieser Erfahrungen schied Wittfogel 1934 zunächst nur als zahlendes Mitglied, aber erst 1939 nach dem Hitler-Stalin-Pakt endgültig aus der KPD aus und glaubte noch bis 1948, die UdSSR sei nur ein entarteter Sozialismus, derdurch eine weitere sozialistische Revolution verändert werden müsse.
1933 erlebte Wittfogel den Terror der anderen ideologischen Gegenseite, nämlich der nationalsozialistischen Diktatur, als Häftling im Konzentrationslager Papenburg am eigenen Leibe. Er war es, der das bekannte Lied „Wir sind die Moorsoldaten“ bei seiner Entlassung aus mehrmonatiger Haft nach draußen schmuggelte, und er hielt seine Eindrücke aus der Lagerhaft in dem Roman „Staatliches Konzentrationslager VII“ fest. In seinem Vorwort zur 2. Auflage seiner „Orientalischen Despotie“ (1961) erinnert sich Wittfogel daran, dass ihn seine Häftlingskameraden bei seiner Entlassung baten, „falls ich die Freiheit wiedersehen sollte, allen Menschen guten Willens die Unmenschlichkeit der totalitären Herrschaft in jeder Form und Maske zu erklären.“ Nach seiner Emigration aus Deutschland wurde der Hitler-Stalin-Pakt 1939, als beide Diktatoren auch nochgemeinsame Sache machten, zur entscheidenden Wende in seinem Leben.
Ihm wurde immer stärker bewusst, dass die „außerordentliche Sünde von Marx gegen die Wissenschaftlichkeit“ bei der Behandlung der asiatischen Produktionsweise etwas mit dessen Theorie der Diktatur des Proletariats zu tun haben könnte und welche Folgen diese Theorie gehabt hatte. So wurde Wittfogel nach 1945 zum erklärten Antikommunisten und Verteidiger der westlichen Freiheit. Er befürwortete eine „offene Gesellschaft“ , erwähnte allerdings den Philosophen Karl Raimund Popper nirgendwo in der 32-seitigen Bibliographie seiner „Orientalischen Despotie“. Man brauche den westlichen Kapitalismus um der Freiheit willen, und ein „bißchen Ausbeutung“ sei der Preis, den man für die Freiheit bezahlen müsse. Deswegen wurde Wittfogel noch lange kein Liberaler; er bezeichnete sich als Sozialdemokrat. Im Kalten Krieg fürchtete er aber den sowjetischen Imperialismus so sehr, dass er sogar den Westen kritisierte: Es fehle angesichts der sowjetischen Bedrohung an
Klarheit und Kühnheit. Man sei innerlich schlecht für den Kampf gegen den kommunistischenTotalitarismus vorbereitet – trotz militärischer Rüstung und wagemutiger Wirtschaftspolitik.Für ihn hieß die Alternative „Sklaverei oder Freiheit“ , und so ist es vielleicht erklärlich, dasser sich 1951 zu einer Aussage vor dem Mc. Carthy-Ausschuss hinreißen ließ, was ihm später allerdings auch etwas peinlich war.
Wittfogel bezeichnete sich als „ordentlichen materialistischen, der Objektivität verpflichteten Wissenschaftler“, der sich als Kämpfer für „unbequeme wissenschaftliche Wahrheiten und grundlegende menschliche Werte gegen ideologische Verblendung…“ einsetzte. Er kehrte also zum Humanismus seiner gymnasialen Zeit zurück. Er bedankte sich 1961 im Vorwort zur deutschen Ausgabe der „Orientalischen Despotie“ ausdrücklich für seine humanistische Erziehung und schrieb in einem Brief an das Johanneum 1975: „Ich verdanke dem Gymnasium Johanneum viel“. Im Jahre 1979 wurde er von seiner alten Schule eingeladen und hielt einen Vortrag im Johanneum mit dem Thema „Hitler, Stalin und die Bedrohung unserer Freiheit“. Eine neue Religion hatte er also nicht gegründet, wie der Direktor des Gymnasiums in seiner Schulzeit vermutete, aber er begann die Religion wieder zu würdigen. In einem Interview 1981 kritisierte Wittfogel den „blindwütigen Atheismus“ von Marx. Religion entfalte wichtige Qualitäten im Menschen. In seiner Wohnung in New York hing etwas verschämt in einer Ecke eine naive Darstellung „Jesus empfängt die Kinder“, und er fragte den Besucher Mathias Greffrath über den 1979 verstorbenen Rudi Dutschke: „War er nicht Christ bis zum Schluss?“.
Wittfogels Hauptwerk endet mit einem Zitat des griechischen Geschichtsschreibers Herodot, das die Aussagen zweier griechischer Bürger, Sperthias und Bulis, wiedergibt. Diese waren von dem hohen persischen Beamten Hydarnes gefragt worden, ob sie dem persischen Großkönig dienen würden, wenn sie selbst dafür mit großem politischen Einfluß belohnt würden. Ihre Antwort lautete: „Hydarnes, einseitig ist der Rat, den du uns gibst. … Von Grund auf verstehst du Sklave zu sein, aber die Freiheit hast du nicht gekostet, ob sie süß ist oder nicht. Oh, wenn du sie gekostet hättest, würdest du uns raten, für sie zu kämpfen…“
In seinen ersten Studien über China 1922- 24 hatte Wittfogel, wie er später zugab, noch nicht bemerkt, dass seine Erkenntnisse über die asiatischen Gesellschaften zu anderen Schlussfolgerungen führten als bei Marx, den er damals als seinen sozialwissenschaftlichen Lehrer ansah. In seinem zweiten Buch „Die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft“ (1924), das noch ganz dem orthodoxen Marxismus verpflichtet war, finden sich nur Andeutungen auf das, was Wittfogel später die „orientalische Despotie“ nannte. Mit der von Marx entlehnten (aber von ihm selbst nicht durchgehaltenen) Forderung, dass ein Forscher die objektive Wahrheit keinem außerhalb der Wissenschaft liegenden Interesse unterordnen dürfe, nicht einmal dem der Arbeiter, entwickelte Wittfogel ab 1926 seine eigene Theorie.
Schon die bürgerlichen Nationalökonomen Richard Jones, John Stuart Mill und Adam Smith hatten die Besonderheiten der asiatischen Gesellschaften entdeckt und beschrieben. Marx hatte seine Kenntnisse über die „asiatische Produktionsweise“ von ihnen. Unter „orientalischer Despotie“ versteht Wittfogel eine Wirtschaftsweise, die sich als menschliche Antwort auf besonders große Herausforderungen der Natur, der sich verändernden Naturkräfte und der natürlichen geographischen Gegebenheiten gebildet hatte. Wo größere Wasseransammlungen in einer ansonsten trockenen, aber latent fruchtbaren Landschaft vorhanden waren und auf die trockenen Böden geleitet werden konnten, entstanden „hydraulische Gesellschaften“. Der Bau von Kanälen zur Bewässerung sowie Deichen und Schutzbauten gegen periodisch auftretende Überflutungen an großen Strömen (z.B. in den Hochkulturen des Zweistromlandes/Babylons, der Induskultur, am Hwangho und Jangtse in China) erforderte den massenhaften Einsatz von bäuerlichen Arbeitskräften. Diese Arbeitsleistungen erfolgten durch Fronarbeit, waren aber wegen der Zersplitterung der vielen Dorfgemeinden erst durch die zentrale Planungsmacht einer Funktionärselite möglich, die gleichzeitig zur politisch herrschenden Kaste aufstieg und über eine zur Mathematik, Geometrie, Astronomie und Verwaltung fähigen Bürokratie verfügte.
Der wirtschaftliche Erfolg dieser kooperativen Gesellschaften wurde aber erkauft durch die Preisgabe vieler Freiheitsrechte an die zentrale Staatsbürokratie, eben die „orientalische Despotie“. Schon Montesquieu betonte die negativen Auswirkungen der orientalischen Herrschaftsform auf die Würde des Individuums. Wittfogel weitete diesen Begriff auch auf andere agrarische Gesellschaften aus, die zwar nicht durch hydraulische Projekte, aber durch eine starke Staatsbürokratie bestimmt waren, die oft auch der größte Landeigentümer war (z.B. das zaristische Rußland, das vorspanische Mittelamerika). Die Städte in allen diesen Gesellschaften waren durch eine starke Abhängigkeit von der Beamtenelite geprägt , und die Kaufleute und Handwerker konnten sich nicht wie in Westeuropa zu einer politisch selbstständigen Macht etablieren. Da die orientalische Despotie die totale Macht beanspruchte, fehlten in solchen Gesellschaften politische Gegengewichte, die für mehr bürgerliche Freiheiten hätten sorgen können.
Karl Marx stieß ab 1853 auf diese Phänomene, die er „asiatische Produktionsweise“ nannte und besonders an Indien untersuchte. In Russland, wo nicht Bewässerungsprojekte die Wirtschaftsweise prägten, aber die russische Umverteilungsgemeinde noch bis ins 19. Jahrhundert trotz Bauernbefreiung 1861 unter dem Druck zentraler staatlicher Steuerforderungen mit Restformen von Gemeinschaftseigentum und schwach ausgeprägtem Privateigentum erhalten blieb, nannte Marx diese Gesellschaftsform „semi-asiatisch“. Nach Marx erstickte die asiatische Despotie die historische Energie der Landbevölkerung. Deshalb habe nur eine echte Revolution je in Asien stattgefunden, nämlich die Veränderungen der rückständigen Strukturen durch die englischen Kolonialherren in Indien.
Nach Wittfogel hatte Marx zwar die asiatische Produktionsweise erkannt, diese Entdeckung aber stiefmütterlich behandelt, da sein Interesse sich eher von der Sache der Arbeiterschaft in den westlichen Industriestaaten leiten ließ. Marx habe die Gefahren einer zentralistischen Staatswirtschaft gesehen, aber mit der ungenügenden Bekanntgabe dieser selbstkritischen Revision eine „außerordentliche wissenschaftliche Sünde“ begangen. Seit 1853 sah für Marx auch die Weltgeschichte unter historisch – materialistischem Standpunkt vielfältiger aus, als er sie noch im „Kommunistischen Manifest“ (1848) beschrieben hatte. Wäre die Vielzahl von Gesellschaftsformen von Marx besser gewürdigt worden, so hätte die stufenweise geradlinige historische Entwicklung von der Urgesellschaft bis zum Sozialismus zumindest durch weitere Entwicklungsmöglichkeiten anderer Gesellschaften relativiert werden müssen. Dem Individuum wären dann eine tiefere moralische und politische Verantwortung zugemessen worden. Gab es außerdem auch Gefahren durch die Abschaffung des Privateigentums wie in der orientalischen Despotie, dann hätte es auch Rückschritte in der geschichtlichen Entwicklung (nach dem Kapitalismus) geben können.
Lenin habe die nun schon durch Marx „verstümmelte“ Konzeption der asiatischen Produktionsweise bereits in „zynischer Verleugnung“ des Marx’schen Theorems weiter verdunkelt, weil er gegen die Menschewiken in Russland kämpfte. Diese Gruppe der russischen Sozialisten unter Plechanov befürchtete, dass bei der revolutionären Strategie der Bolschewiken unter Lenin eine kleine Partei aus Berufsrevolutionären die Rolle der asiatischen Despotie übernehmen könnte. Die Oktoberrevolution 1917 hat nach Wittfogel tatsächlich nicht etwasozialistischen Charakter gehabt, sondern sei eine Herrschaft der Apparatschiks gewesen, die nie eine Beteiligung der Bevölkerung zuließ und zur totalitären Terrorherrschaft Stalins überleitete.
Wittfogel schrieb nach eigenen Angaben sein „beunruhigendes Buch“, weil der soziale Totalitarismus der UdSSR weit über die alte orientalische Despotie hinausgegangen und ein bedrohlicher imperialistischer Staat entstanden sei, der außerdem wegen seiner angeblich sozialen Sache weltweite Anziehungskraft ausübte. Seit 1949 beherrschten nach Wittfogel die totalitären Machtgebilde Russland und China bereits ein Drittel der Menschheit, sodass für Wittfogel der wichtigste politische Wert weltweit in Gefahr war: die Freiheit. „Nur der verdient das Recht, frei zu sein, der fest im großen Erbe der Vergangenheit wurzelt, der wachsam den Drohungen einer konfliktzerissenen Gegenwart begegnet, und der entschlossen alle Möglichkeiten einer offenen Zukunft meistert“ (Die orientalische Despotie, 1957).
Die Wirkungsgeschichte der Theorie der „orientalischen Despotie“ reicht unter anderem bis zu Rudi Dutschkes Buch „Versuch, Lenin auf die Füße zu stellen“ (1974) und bis zu Rudolf Bahros Buch „Die Alternative“ (1978). In den als Unterrichtsmaterial für Schüler von der Bundeszentrale für politische Bildung verbreiteten „Informationen für politische Bildung“ wird Wittfogel im Heft „Entwicklungsländer“ (1988) als Vertreter einer Erklärung für Unterentwicklung zitiert, nach der die ungünstigen natürlichen geographischen Verhältnisse und ihr Einfluss auf das gesellschaftliche System als Ursachen für die fehlende Entwicklung einer modernen industriellen Wirtschaftsweise angesehen werden.
In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung sind gegen Wittfogels „Orientalische Despotie“ gewichtige Argumente ins Feld geführt worden. In vielen Ländern gebe es zwar hydraulische Systeme, aber keine Despotie,z.B. in den Niederlanden oder in Sri Lanka. Wo hingegen Wasserwirtschaft und Bürokratie vorhanden waren, sei nicht zu beweisen, dass Wasserbau die Staatsbürokratie hervorbrachte. Gerade in China sei die kaiserliche Herrschaft mit ihren Beamten nicht unbedingt aus der hydraulischen Wirtschaftsweise hervorgegangen. Dennoch besitze Wittfogels Theorie nach wie vor als heuristischer Impetus einen gewissen Wert. (Joachim Radkau, Natur und Macht – Eine Weltgeschichte der Umwelt, Beck-Verlag München 2000).
Besonders in den letzten 20 Jahren wurde die westliche Welt durch das rasante Wirtschaftwachstum asiatischer Staaten überrascht, die vorher noch als Entwicklungsländer galten. Andere Regionen der Welt, in denen keine hydraulischen Gesellschaften oder zentralistischen Staatsbürokratien entstanden waren, wie z.B. Afrika, machen dagegen in Bezug auf ihre wirtschaftliche Unterentwicklung große Sorgen. Asien gilt – trotz mancher Krisen – als Markt der Zukunft, was besonders für die Großmacht China zutrifft. Dass sich dabei das zentralistisch regierte politische System Chinas demokratischen Freiheiten öffnet, bleibt allerdings nach wie vor zu hoffen.