Die Gründung und der Aufbau des „Instituts für Konjunkturforschung“ in Berlin waren maßgeblich das Werk der Persönlichkeit, der Vitalität und des Selbstbewußtseins von Ernst Wagemann. Dabei bemühte er sich, Verbesserungsvorschläge aller Mitarbeiter ernst zu nehmen, und führte moderne Formen des Teamworks im Institut ein. Vorbild waren für Wagemann amerikanische Einrichtungen, z.B. das Harvard-Institut, das auf den Theorien von W.C. Mitchell („Business Cycles“ 1913) aufbaute und eine Synthese von wirtschaftstheoretisch-
historischen und mathematisch – statistischen Arbeiten versuchte. Im Unterschied zum damaligen Stand der deutschen Tradition der Krisentheorie, die möglichst schnell einen „Krankheitserreger“ als Ursache in den Konjunkturschwankungen finden wollte, dabei aber oft mit monokausalen Schlüssen in die Irre lief, legte Wagemann seinen Forschungsansatz weitläufiger an. Er versuchte mit systematischer Empirie zunächst ein umfassendes allgemeines Konjunkturbild zu zeichnen, indem er bestimmte (möglichst viele) Symptome feststellte (Symptomatologie). Dann wurden die Symptome in Verbindung mit dem Wirtschaftskreislauf gebracht und – so lautete ein wichtiger Grundsatz Wagemanns- immer im Zusammenhang mit dem weltwirtschaftlichen Gesamtgeschehen analysiert.
Es war die Komplexität moderner nationaler und internationaler Wirtschaftsvorgänge, die eine feine und umfassende Methodik der Konjunkturforschung nötig machten, was Wagemann oft den Vorwurf des reinen Empirismus einbrachte. Er war aber wissenschaftstheoretisch versiert genug, um einzugestehen, dass jede Empirie auch mit einer Theorie einhergeht. Deshalb sollte auch die Konjunkturforschung nicht „reine“ Wissenschaft sein, sondern mit den praktischen Bedürfnissen der Wirtschaft und der Wirtschaftspolitik verbunden werden. So entwickelte er das „Konjunkturbarometer“ zur Konjunkturdiagnose und – prognose und gab regelmäßig ein Vierteljahresheft des IfK heraus. Wichtig wurde diese Arbeit besonders in der Weltwirtschaftskrise ab 1929, wenn man sich auch zunächst nur einzugestehen vermochte, dass man eine so starke Depression beobachtete, die „noch niemals zuvor beobachtet werden konnte“. Die Diagnosen, die das IfK in seinen Berichten stellte, waren niederschmetternd, z.B. 1930: „Das Warten auf die heilenden Kräfte der Depression hat seinen Sinn verloren“.
Im Januar 1932 wurden Wagemann und mit ihm führende Vertreter der Wirtschaft aktiv. Er schlug vor, ein Kreditsystem aufzubauen, das in der Lage wäre in dieser Krise zu helfen. Der sogenannte „Wagemann-Plan“ sah im Gegensatz zur Regierung Brüning eine Ausweitung der Geldmenge vor und erhielt prompt harsche Kritik für sein „anarchistisches Inflationsprogramm“ und diese „vorübergehende Geldanarchie“ (Dt. Volkswirt, 1932 1.Hj.). Aus Angst vor einem weiteren Vertrauensverlust des Auslands bei einer Kreditexpansion in Deutschland verdammten 32 deutsche Nationalökonomen im März 1932 öffentlich Wagemanns Plan. Die Umsetzung des Plans ließ sich nicht verwirklichen. Immerhin stellte das IfK im Dezember 1932 das Ende der Depression fest,was Hitler allerdings später nicht hinderte zu behaupten, er habe durch seine Maßnahmen die Depression beendet.
Ausgerechnet im Jahre 1933 wurde nun dem IfK eine Namensänderung von oben befohlen, nämlich „Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung“ . Wagemann begab sich auf eine gewisse innere Distanz zur Arbeit des Instituts. Er schrieb seine Bücher eher selbst, floh in die Statistik und ihre Grenzgebiete (z.B. „Narrenspiegelder Statistik“ 1935). Seine positive Beurteilung der nationalsozialistischen Wirtschaftspolitik bis 1940 zeigt aber, dass er sich dem Druck des Nationalsozialismus nicht entziehen konnte (vgl. sein Buch „Wo kommt das viele Geld her? Düsseldorf 1940). Erst ab 1941 ging er auf Distanz zum Nationalsozialismus. Seine Werke, die er nach 1945 schrieb, zeigen ein Verantwortungsbewußtsein für Fragen, die die ganze Welt betreffen.
Hauptwerke Ernst Wagemanns:
Allgemeine Geldlehre (1923); Konjunkturlehre (1928); Einführung in die Konjunkturlehre (1929); Struktur und Rhythmus der Weltwirtschaft (1931); Narrenspiegel der Statistik (1935, 1950³); Die Zahl als Detektiv (1938,1952²); Menschenzahl und Völkerschicksal (1949); Berühmte Denkfehler der Nationalökonomie(1951); Welt von morgen (1953); Wagen, Wägen, Wirtschaften (1954, 1955²).
Am 17.3. 1933 wurde Wagemann aufgrund des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7.4. 1933 als Präsident des Statistischen Reichsamtes zwangsbeurlaubt und am 17.7. 1933 endgültig in den Ruhestand versetzt. Ihm wurde am 28.7. 1933 eine Stelle eines Regierungsrates der Besoldungsgruppe A 2 c beim Reichswirtschaftsministerium zugewiesen. Die Entlassung als Präsident des Statistischen Reichsamtes ist wohl auf eine Denunziation der nationalsozialistischen Betriebszelle des Statist. Reichsamtes zurückzuführen, die Wagemanns schwer zu bestimmende und damit unzuverlässige politische Haltung als Begründung für seine Untragbarkeit nennt. Die bereits verfügte Entlassung als Leiter des Instituts für Konjunkturforschung (IfK) wurde dagegen wieder rückgängig gemacht. Am 1. Mai 1933 trat Wagemann wohl aus opportunistischen Erwägungen in die NSDAP ein, machte sich aber 1936 mit einer negativen Konjunkturprognose nicht gerade beliebt, da diese dem ideologischen Optimismus der nationalsozialistischen Regierung widersprach. Ab 1939 wurde das IfK kriegsbedingt mit dem Rüstungsministerium zur zentralen Leitstelle der Rüstungsplanung und Kriegswirtschaft. Es stellt sich die Frage, wie Wagemann die Wirtschafts- und Rüstungspolitik des Nationalsozialismus von 1933 bis zum damaligen Zeitpunkt beurteilt hat.
In seiner Monografie „Wo kommt das viele Geld her? Geldschöpfung und Finanzlenkung in Krieg und Frieden“ (Völkischer Verlag Düsseldorf 1940) äußert sich Wagemann zum Problem, wie es die nationalsozialistische Regierung geschafft hat, die für den 2. Weltkrieg nötigen Finanzen zu beschaffen und ob die deutsche Wirtschaft die Belastungen durch den Krieg verkraftet. Wagemann ist der Auffassung, die deutsche Wirtschaft sei auf stabile Grundlagen gebaut und die Kriegskosten seien solide finanziert. Er nennt folgende Gründe für seine Ansicht.
Seit 1933 habe es ein starkes Wirtschaftswachstum und einen Konjunkturaufschwung gegeben, den kaum ein Experte für möglich gehalten habe (aaO. S. 10f). Er resümiert die wirtschaftliche Entwicklung im 1. Weltkrieg und die Inflation 1923 mit den finanzpolitischen Fehler der damaligen Regierungen, den Aufschwung 1925-1929 und die Weltwirtschaftskrise, die er hauptsächlich durch die internationale Kreditverflechtung verursacht sieht (S. 58). Er geht kurz auf den Wagemann-Plan ein, den die damalige Weimarer Regierung mit falschen Argumenten abgelehnt habe. Die politische Führung des Nationalsozialismus dagegen habe die notwendige „Kraft und Einsicht“ zum Reformwerk gefunden, das Geld- und Kreditwesen auf neue Grundlagen zu stellen (S.63). Der Nationalsozialismus sei nach der Machtergreifung mit „jugendfrischer Kraft“ an die Lösung der Probleme der Wirtschaftskrise herangegangen, vergleichbar mit einem frischen Luftzug, der in ein muffiges Krankenzimmer hereingeströmt sei (S.64). Der Nationalsozialismus habe im Gegensatz zur liberalistisch orientierten Geschäftswelt klar seine Pflichten erkannt. Der rasante Abbau der Arbeitslosigkeit von 6 Mio 1932 auf 2,5 Mio 1935 sei so beeindruckend, dass sogar Fachleute nachfragten, ob die Zahlen nicht geschönt seien (S.65). Der Staat habe wie ein strenger „weitblickender Vater“ gehandelt, die Staatsaufträge massiv ausgeweitet und die Schuldenlast übernommen (S.68). Wagemann erkennt richtigerweise, dass die Ankurbelung der Wirtschaft durch die Wiederaufrüstung und den Vierjahresplan von 1936 geschah (S. 70). (Zum Ausbruch des 2. Weltkrieges verliert Wagemann allerdings kein Wort). Er nennt das neue Notenbankgesetz vom 15.6. 1939 einen Markstein in der Finanzpolitik (S.79).
Obwohl man wegen der Ähnlichkeit des Wagemann-Plans mit der keynesianischen antizyklischen Finanzpolitik vermuten könnte, Wagemann stehe Keynes’ Konzept nahe, wird man von ihm belehrt, dass er Keynes trotz einiger wertvoller Anregungen nicht dem wissenschaftlichen Nachwuchs in Deutschland empfehlen könne. Keynes’ Handlungsanweisungen seien praktisch kaum nützlich, da sie auf eine liberalistisch- individualistische Wirtschaftsverfassung zugeschnitten seien (S. 83-85). Das deutsche Modell der Wirtschaftslenkung bezeichnet er als „Totalität des Handelns“ und verdeutlicht es mit seinem „Uhrengleichnis des Finanzierungssystems“ (S.86ff). Die Geldschöpfung ist für Wagemann das Triebwerk und die staatliche Lenkung von Produktion und Verbrauch der Regulator der Wirtschaft. Er lobt die nationalsozialistische Regierung dafür, dass sie Produktion auf das Wachstums des öffentlichen Sektors umstellte, und hält das Wachstum der Reichsschuld zur Kriegsfinanzierung für bescheiden (S. 118). Er rechnet insgesamt mit der Theorie des Wirtschaftsliberalismus ab und stimmt das Loblied der zentralen Steuerung der Volkswirtschaft an. Das derzeitige deutsche Finanzierungssystem sei sogar die „vollendetste Konstruktion“, die auf diesem Gebiet jemals erdacht worden sei (S.119-121). Er befürwortet die finanzielle Abschottung Deutschlands gegen die „Zügellosigkeit der vagabundierenden Kapitalbewegungen“ auf den internationalen Finanzmärkten und rechtfertigt die Autarkie Deutschlands besonders im Finanzbereich. Den Lohn- und Preisstop von 1936 begründet er u.a. mit den Worten des Führers, es dürfe im Krieg keine „Kriegsgewinnler“ geben. Die Umstellung der Wirtschaft auf den Kriegsbedarf wird nicht hinterfragt. Die wachsende Staatsverschuldung von 10 Mrd Reichsmark sei vom deutschen Staat „spielend“ aufzubringen (S.150), der englische Staat dagegen schaffe das nicht, weil England keine „autoritäre Staatführung“ habe (S.156). Die Führung des deutschen „Volksstaates“ habe kein anderes Ziel als der ganzen Nation- und nicht nur einer kleinen Bevölkerungsschicht- zu dienen: „staatsmännische Verantwortung“ statt „kaufmännischer Gewinnorientierung“ (S.159). Am Ende des Buches zitiert Wagemann den Reichswirtschaftminister Funk mit den Worten: „…Wir verzichten auf einen billigen Optimismus, wohl aber besitzen wir im Vertrauen auf unseren Führer die Gewissheit, diesen Kampf sicher und siegreich durchzustehen“ (S.160).
Zusammenfassend kann man vermuten, dass Wagemann von den wirtschaftlichen Maßnahmen und den Erfolgen der NS-Regierung 1933-39 stark beeindruckt worden ist und von ihren ideologischen Begründungen ehrlich überzeugt gewesen sein muss. Das gilt in Bezug auf die autoritäre politische Führung, in Bezug auf die Wirtschaftslenkung, die antikapitalistische bzw. antiliberalistische Politik und die Volksgemeinschaftsideologie. Deutlich grenzt er sich gegen die englische Demokratie ab, die keine solchen Leistungen wie das deutsche Reich unter NS-Führung zustande gebracht habe. Dabei nimmt er offensichtlich den Krieg Hitlers zunächst in Kauf, rechtfertigt ihn aber nicht. Zwar findet sich nichts Antisemitisches, Rassistisches und keine Blut- und Bodenideologie, aber zusammen mit einer gehörigen Portion Opportunismus scheint Wagemann zumindest bis 1940 doch mehr als ein Mitläufer gewesen zu sein.
1941 hielt Wagemann in Pressburg (Bratislava) eine Rede, in der er zum ersten Mal die nationalsozialistische Politik ablehnte, so dass der deutsche Gesandte dem Auswärtigen Amt darüber berichtete. Im Sommer 1943 machte er auf einer Tagung einer Zweigstelle des IfK in Braunschweig nach einer Rede Bemerkungen über die Unvermeidlichkeit eines Rückzugs Deutschlands aus Russland. Diese Äußerung führte zu einem staatspolitischen Verfahren gegen Wagemann, in dem er zu vier Wochen Einzelhaft verurteilt wurde. Eine weitergehende Forderung Himmlers für eine halbjährige KZ-Haft kam nicht zur Durchführung, möglicherweise durch Einwirkung einflussreicher Freunde Wagemanns. Bis zum Ende des Krieges 1945 sind keine weiteren oppositionellen Äußerungen Wagemanns bekannt.
Wagemann stellte 1952 wegen entgangener Pensionsansprüche (durch die Entlassung als Präsident des Statistischen Reichsamtes 1933 ) einen Wiedergutmachungsantrag als „Verfolgter des NS-Regimes“, der 1954 im zweiten Anlauf nach einer Klage Wagemanns gegen die vorherige Ablehnung positiv entschieden wurde. Wagemann wird dabei auch zugute gehalten, dass er Personen in seinem Institut beschäftigte, die dem Nationalsozialismus aus politischen oder „rassischen“ Gründen eigentlich nicht genehm sein konnten, z.B. den jüdischen Professor Eulenberg, der dann tatsächlich von der Gestapo abgeholt wurde und wenig später an den Folgen der Haft starb. Außerdem bezeugten Freunde Wagemanns, dass er Kontakte zu Personen gehabt habe, die zum Verschwörerkreis des 20. Juli 1944 gehörten und ihnen wirtschaftspolitisches Material überlassen habe. Dass Wagemann in seinem Antrag angab, schon ab 1933 den Nationalsozialismus von vornherein auf das schärfste abgelehnt zu haben und nur nominell Mitglied der NSDAP gewesen zu sein, ist allerdings aus heutiger Sicht nur schwer nachzuvollziehen.
Literatur:
Pickhardt, Thomas: Bevölkerungsdichte und sozialer Wandel, Ernst Wagemanns demodynamisches Alternationsgesetz- Entstehung, Rezeption, Gültigkeit, Tectum Verlag, Reihe Sozialwissenschaften Bd. 35 Marburg 2010
Wagemann, Ernst: „Wo kommt das viele Geld her? Geldschöpfung und Finanzlenkung in Krieg und Frieden“, Völkischer Verlag Düsseldorf 1940
Bisherige Gewinner/innen des Zechlinpreises am Johanneum:
2003 Harriet Krause, Pablo Burgard
2006 Sandra Prölß
2008 Ellen Fesefeldt, Tobija Saßnick
2010 Mirja Hagemann , Martin Schäfer
2011 Lea Dehning, Michael Schumacher
2012 Vivian Tian Randhawa, Jonathan Krumstroh
2013 Niels Elsner
2014 Mareike Wandt